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Öffentliches Baurecht | 1C_163/2015

Unhaltbare und der Praxis widersprechende Auslegung von kommunalem Baugesetz verletzt Gemeindeautonomie

Redaktion von Bau- und Zonenreglementen für Gemeinden und Beratung von Kantonen bei Änderungen der Planungs- und Baugesetze – Anwälte Hofstetter.

Die Nichtanrechnung eines Treppenhauses zur anrechenbaren Geschossfläche entgegen der konstanten Praxis der Baukommission zum Zwecke der Gewährung einer höheren Ausnützung und damit wirtschaftlichen Vorteilen eines Bauherrn in wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist willkürlich.

Die Auslegung von Art. 16 Abs. 2 des Baugesetzes der Gemeinde Disentis vom 30. November 2008 (BauG) durch das Verwaltungsgericht, wonach die präzise Formulierung, welche eine Begriffsauslegung nach SIA-Norm 416 vorsieht auf den ganzen Artikel bezieht, ist sachlich kaum haltbar, entgegen der Behördenpraxis und verletzt die Gemeindeautonomie.

Entgegen der Auffassung der Baukommission hat der Gemeindevorstand Disentis aufgrund der speziellen wirtschaftlichen Lage der Bauherrin beschlossen, die Baubewilligungen für zwei Vierfamilienhäuser zu erteilen mit der Auflage, die Fassadenöffnungen des Treppenhauses nicht zu schliessen. Die eingegangenen Einsprachen der Beschwerdeführer wurden abgewiesen. Das Verwaltungsgericht wies die Beschwerde ebenfalls ab.

Gemäss Art. 16 Abs. 2 BauG werden Flächen, welche eine lichte Höhe unter 1.60 m haben, sowie Nebennutzflächen und Funktionsflächen gemäss der Norm SIA 416 nicht zur Bestimmung der Ausnützungsziffer angerechnet. Nach Art. 16 Abs. 5 gehören Verkehrsflächen zur anrechenbaren Geschossfläche.

Das Verwaltungsgericht argumentierte, dass nicht nur die in Abs. 2, sondern alle in Art. 16 BauG verwendeten Begriffe nach der SIA-Norm 416 auszulegen seien. Danach sei die Verkehrsfläche Teil der Geschossfläche. Die Geschossfläche wiederum ist die "allseitig umschlossene und überdeckte Grundrissfläche der zugänglichen Geschosse einschliesslich der Konstruktionsflächen". Da offene Treppenhäuser gegen aussen eben nicht abgeschlossen sind, seien diese auch nicht Teil der Verkehrsfläche und damit der Geschossfläche. Diese Auslegung ist laut Bundesgericht nicht ansatzweise nachvollziehbar.

Gemäss Bundesgericht ist es unbestritten, dass Treppenhäuser Verkehrsflächen sind und damit nach Art. 16 Abs. 5 BauG ausdrücklich zur anrechenbaren Geschossfläche gehören. Die Baukommission der Gemeinde wendet diese Bestimmung denn auch in diesem Sinne an und rechnet Treppenhäuser stets zur anrechenbaren Geschossfläche, unbesehen davon, ob deren Öffnungen mit Türen oder Fenstern verschlossen werden oder nicht. Es ist laut Bundesgericht sachlich unvertretbar, ein vollständig innerhalb des Gebäudekubus liegendes Treppenhaus in Bezug auf die Ausnützung anders  zu behandeln, je nachdem ob die Fassadenöffnungen geschlossen sind oder nicht.

Das Bundesgericht bezeichnet den Entscheid des Gemeindevorstands, das Treppenhaus entgegen der konstanten Praxis der Baukommission zu Art. 16 Abs. 5 BauG, nicht zur anrechenbaren Geschossfläche zu zählen, als willkürlich. Ausserdem ist die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage der Bauherrin im BauG nicht vorgesehen, sachfremd und unhaltbar.

Das Bundesgericht hält zusammenfassend fest, dass die Bauvorhaben die zulässige Ausnützung sprengen und von der Gemeinde aus einem sachfremden Motiv willkürlich bewilligt wurden. Die sachlich kaum haltbare und der Praxis der kommunalen Baukommission zuwiderlaufende Auslegung des kommunalen Baugesetzes durch das Verwaltungsgericht verletzt die Gemeindeautonomie.